voriges Kapitel

zurück zur Gesamtauswahl

nächstes Kapitel

Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung

Gedenkbuch Seiten 162 - 165

EINSTEIN, Helene und Mathilde,

Radstraße 8

KARL NEIDLINGER

Mutter: Mathilde Einstein, geb. Nathan, geb. 13.5.1856 in Laupheim, gest. 7.3.1937 in Laupheim. Witwe von Heinrich Einstein, gest. 1909. Tochter: Helene Einstein, geb. am 19.8.1888 in Laupheim, ledig, ermordet 1942 in Riga.

 

Während die Einsteins, zumindest in ihren ersten hundert Jahren, wirtschaftlich nicht übermäßig erfolgreich waren, glänzten sie auf jeden Fall durch ihre Fruchtbarkeit. Leopold (der Laupheimer Einstein-Urahn, K.N.) und Esther Einstein hatten drei Söhne und mindestens drei Töchter, die ihnen zwischen 1786 und 1825 nachweislich 39 Enkelkinder gebaren, von denen zehn männlich waren und die alle in Laupheim Familien gründeten.

(Zitat aus: John H. Bergmann: Die Bergmanns in Laupheim, S. 22)

 

Die Bergmann-Großfamilie  hatte, wie alle jüdischen Laupheimer Familien auch, in Leopold Einstein einen gemeinsamen Vorfahren. Daher widmete John Bergmann den Einsteins in seiner Familienchronik ein ganzes Kapitel. Die von ihm hervorgehobene Fruchtbarkeit der Einstein-Großfamilie hielt auch in den folgenden Generationen noch an: Heinrich Einstein, ein Urenkel Leopolds, hatte elf Geschwister, seine Tochter Helene war das jüngste seiner sechs Kinder.

(„Laupheimer Verkündiger“: 9. 2. 1878)

Über die Familie ist eher wenig bekannt. Mathilde Nathan und Heinrich Einstein heirateten noch im Jahr ihrer Verlobung, denn die älteste Tochter Flora kam schon im März 1879 zur Welt. Heinrich Einstein lebte vermutlich vom Viehhandel und er erbaute das Anwesen Radstraße 8, zu dem eine Scheuer und eine Stallung gehörten. Weshalb er mit 53 Jahren schon starb und wie es danach wirtschaftlich weiterging, muss offenbleiben. Bis auf die Tochter Helene verließen alle seine Kinder Laupheim: Sie gingen in die Schweiz, nach den USA oder verheirateten sich in größere Städte wie Ulm oder Göppingen. Auch das war seit Mitte des 19. Jahrhunderts kein Einzelfall, sondern eher die Regel, nicht nur bei den Einsteins.

So kam es, dass trotz der großen Nachkommenzahl 1933 in Laupheim gerade bei den Einsteins vorwiegend unvollständige oder Restfamilien zu finden sind. Mathilde Einstein, geborene Nathan, überlebte ihren Mann um viele Jahre und starb 81jährig im Jahr 1937. Sie bekam noch auf dem Laupheimer Friedhof ein Grab, was der jüngsten Tochter Helene, die ihr ganzes Leben mit ihr zusammen verbracht hatte, nicht mehr vergönnt war.

Helene Einstein, im November 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet, ist wenigstens fotografisch gut dokumentiert: Als Grundschülerin bei Lehrer Gideon 1895 und als Absolventin der Frauen-Arbeitsschule im Jahr 1913. Dieses Foto ist ein schöner Beweis des christlich-jüdischen Miteinanders in der Stadt, wie es damals üblich war und welches zwanzig Jahre später brutal zerstört wurde. Die Frauenarbeitsschule war eine sonntägliche, freiwillige Weiterbildungsmöglichkeit für schulentlassene, noch ledige junge Frauen, wo Lehrschwestern der Franziskanerinnen praktische Kenntnisse und Fertigkeiten für künftige Hausfrauen vermittelten. Frauen aller drei Konfessionen besuchten sie und präsentierten auf dem Abschlussfoto 1913, das vor dem Volksschul-Haupteingang in der Mittelstraße entstand, stolz die selbst gefertigten Taschen.

                           

Helene Einstein als Erstklässlerin 1895.        Auszug aus dem Gruppenbild (nächste S.)

 Frauenarbeitsschule Laupheim, 1913. Mittlere Reihe, zweite v. rechts: Helene Einstein.

 

Das Foto der Frauenarbeitsschule stammt aus Josef Brauns Alt-Laupheimer Bilderbogen“, Band 1. Helene Einstein kommt dort auf Seite 61, wo die Namen abgedruckt sind, aber nicht vor: Die Zuordnung der Namen zu dem Bild, wie sie Braun vornahm, wurde später durch John H. Bergmann korrigiert, vermutlich mit Hilfe seiner Kusine Gretel Gideon. Helene Einstein ist danach mit großer Sicherheit die Dame in der Mitte des Bildausschnitts auf der vorigen Seite, umrahmt von Friedele Bernheim (oben links, mit einer Hand auf ihrer Schulter), Alwine Dworzan (links), Salie Rosenberger (vorne links), Mina Friedberger (direkt vor ihr), C. Levigard (rechts davor) und H. Löffler (rechts hinter ihr).

Helene Einstein blieb, wie mindestens drei weitere der sie umrahmenden Altersgenossinnen, unverheiratet. Am Aussehen kann es nicht gelegen haben, wie unschwer zu erkennen ist. Abgebildet sind hier junge Laupheimerinnen der Jahrgänge 1888 bis 1897: Ihre männlichen Altersgenossen mussten alle in den Ersten Weltkrieg ziehen und viele kehrten nicht zurück. Der Blutzoll, den die deutsch-jüdische Bevölkerungsgruppe entrichten musste, war wahrscheinlich prozentual sogar noch ein wenig höher als der Gesamtdurchsschnitt dennoch wurde in einer üblen Verleumdungskampagne schon während des Krieges das Gegenteil behauptet. Es fehlten auch in der jüdischen Konfession nach dem Krieg genauso viele potentielle Heiratspartner wie bei den Christen: „Haustochter“ zu sein wurde nicht nur für Helene Einstein zum Lebensschicksal.

Am Morgen nach der Pogromnacht, am 10. November 1938, hatte der dreizehnjährige Rochus König Ministrantendienst in der Pfarrkirche St. Peter und Paul. Er wohnte damals mit seiner Familie in der Radstraße, ihr Hauseingang befand sich etwas abseits von der Straße im rückwärtigen Bereich. Dass die Synagoge in dieser Nacht brannte, hatten auch seine Eltern mitbekommen, sich aber nicht hinausgetraut und kein Licht angemacht. Als er nun frühmorgens zum Ministrieren ging, es dämmerte gerade, hörte er unter der Haustreppe leises Schluchzen und Weinen. Zwei Frauen hielten sich dort versteckt und saßen eng umschlungen und zitternd dort. Eine erkannte er: Es war seine entfernte Nachbarin Helene Einstein. Sie war nachts aus ihrem Haus geflohen und hatte unter der Treppe Schutz gesucht, da sie befürchtete, von den randalierenden SA-Leuten ebenfalls aus dem Haus geschleppt und festgenommen zu werden. Der dreizehnjährige Junge hatte aber genauso viel Angst, er traute sich nicht, den beiden Frauen zu helfen, sondern ging zum Ministrieren in die Kirche. Auch der Pfarrer traute sich nicht, zu den schrecklichen Ereignissen dieser Nacht etwas zu sagen und hielt Gottesdienst, als wäre nichts geschehen.

Nach dem Tod ihrer Mutter 1937 wurde Helene Einstein alleinige Eigentümerin des Anwesens Radstraße 8. Schon im Jahr darauf verfasste sie ein Testament und setzte darin ihren jüngsten Bruder Leonard, der in Zürich lebte, als Alleinerben ein. Die sich immer weiter verschärfenden Maßnahmen des NS-Staates gegen die Juden machten nicht Halt vor ihr und im September 1941 wurde Helene in die Wendelinsgrube zwangsumgesiedelt. Die beiden Wohnungen in ihrem Haus wurden seit 11. 11. 1941 von der Stadt vermietet, die Scheune benutzte seit 1942 der Landwirt Karl Held. Am 28. 11. 1941 wurde Helene Einstein in das Vernichtungslager Riga deportiert, wo sie 1942 ermordet wurde.

Leonard Einstein, geboren am 19. 8.1887, der zweitjüngste der sechs Geschwister, hei- ratete 1935 in Frankfurt/M. Edith Beer und emigrierte bald darauf in die Schweiz. In Zürich konnte er mit seiner Familie F fassen, er wurde Leiter des Nathan-Instituts Zürich. Er stellte 1948 einen Restitutionsantrag zu dem Anwesen Radstraße 8, doch da er schon 1950 starb, erhielten seine Frau und seine Kinder das Haus und das Grundstück Helene Einsteins zurückerstattet, welche es dann wohl weiter verkauften. Von der Fahrnis, den beweglichen Besitztümern, war nichts mehr bekannt und nichts mehr vorhanden.

 

Leonard Einstein (1887–1950), Zürich.


 

 

voriges Kapitel

zurück zur Gesamtauswahl

nächstes Kapitel