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Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung

Gedenkbuch Seiten 111 - 115

BERGMANN, Marco, 

Ulmer Straße 69

 

KARL  NEIDLINGER  

Marco Bergmann, geb. 10.8.1878 in Laupheim, gest. 23.7.1952 in Ulm, OO Elsa Jenny Bergmann, geb. Oppenheim, geb. 4.3.1886, gest. 16.2.1956 in Frankfurt/M.
Eleonore „Lore“ Bergmann, geb. 13.5.1907 in Laupheim,
Paul Bergmann, geb. 21.6.1910 in Laupheim, gest. Dezember 1982,
Ruth Friga Bergmann, geb. 23.9.1917 in München, gest. 31.2.2003.
Emigration der Familie zwischen 1933 und 1937 nach England bzw. später in die USA und nach Kanada. 

 

"Villa Bergmann ist die ursprüngliche und eigentlich richtige Bezeichnung für das markante Gebäude an der Ulmer Straße, das heute Gregorianum oder einfach Musikschule genannt wird. Marco, der älteste Sohn Anton Bergmanns, errichtete das repräsentative Gebäude inmitten eines weitläufigen Parks im Jahr 1912 als Wohnsitz für seine Familie, ein deutliches Zeichen der Prosperität vor dem Ersten Weltkrieg. Seine jüngeren Brüder und Cousins bauten und wohnten nicht mehr so aufwendig, sicher auch ein Hinweis, dass in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg der Gipfelpunkt in der Geschichte der Firma Bergmann erreicht war.

Zu Marcos Schulzeit steckte die Firma noch in den Kinderschuhen. Für eine lange Schulausbildung der Kinder war noch kein Geld da, und so begann er nach vier Jahren Lateinschule schon mit der Berufsausbildung. Und das bedeutete für ihn wie für alle Bergmänner: Auf Reisen gehen, Sprachen lernen und die Welt erkunden. Marcos Wanderjahre“ führten ihn nach Frankreich, nach Genf sowie in die Donaumonarchie Österreich-Ungarn.

Im Jahr 1904 wurde er zusammen mit seinem Cousin Theodor in die Firmenleitung aufgenommen und 1907 wurden beide zu gleichberechtigten Teilhabern erhoben. Eine Voraussetzung dafür war seine ein Jahr zuvor gefeierte Hochzeit. Das Fest fand in Frankfurt/Main statt, denn seine Frau Else Oppenheim stammte aus einer alten jüdischen Frankfurter Patrizierfamilie.

Ausschnitt aus einem Gruppenfoto um 1900: Marco (ganz rechts)

stößt mit Ludwig Stern an, vor ihm sitzt sein Cousin Theodor Bergmann.

Als erster in der Familie und lange Jahre als einziger besaß Marco einen Autoführerschein, und als er sich 1908 einen dunkelblauen Opel kaufte, war dies eines der ersten Autos in Laupheim. Die Jungfernfahrt von Ulm nach Laupheim verlief allerdings nicht ganz reibungslos. Der Tank war beim Start nicht mit der richtigen Mischung befüllt worden und in Dellmensingen gab das neue Auto schon auf. Niemand wusste, wie es weitergehen sollte, da kam zum Glück eine pferdebespannte Artillerieeinheit des Wegs, deren Offizier Marco zufällig kannte. Der lieh ihm zwei Pferde, die vor das neue Auto gespannt wurden und so kamen sie, von zwei PS gezogen, doch noch heim.

Marco wird von John Bergmann als großzügige, musikalisch begabte, künstlerisch und kulturell vielseitig interessierte Persönlichkeit charakterisiert. Er spielte selbst Geige und versuchte in den 20er Jahren erfolgreich, ein Orchester in Laupheim zusammenzustellen, das mit der Blaskapelle zusammen einmal ein gemeinsames Konzert gab. Ebenso versuchte er, auswärtige Orchester und Theatergruppen zu Aufführungen nach Laupheim zu engagieren: Dass sein Haus heute die Städtische Musikschule beherbergt, müsste eigentlich ganz in seinem Sinne sein.

Die älteste Tochter Eleonore, genannt Lore, kam im Jahr 1907 zur Welt, sie studierte nach dem Abitur Medizin. Der 1910 geborene Sohn Paul stieg nach der Schule in die elterliche Firma ein und blieb dem Haargeschäft als einziger der nächsten Generation auf Dauer treu. Die 1917 geborene jüngste Tochter Ruth Frigga war 1933 noch Schülerin und konnte daher in Deutschland keine Ausbildung mehr beginnen.

Im Ersten Weltkrieg wurde auch Marco 1915 eingezogen, zuerst zur Infanterie, danach kam er dank seines Führerscheins als Fahrer zu einer motorisierten Einheit. Er überstand den Krieg unversehrt.

Als nach dem Krieg bei der Gründung der Weimarer Republik auch die Frauen in Deutschland erstmals das aktive und passive Wahlrecht erhielten, kandidierte Elsa Bergmann auf einer von ihr mit initiierten Frauenliste 1919 für den Laupheimer Gemeinderat. Sie erzielte mit 809 Stimmen das beste Ergebnis auf ihrer Liste, verfehlte jedoch den Einzug als erste Frau in das Stadtparlament knapp. „Stimmenkönig“ wurde bei dieser ersten Kommunalwahl nach dem Krieg Max Bergmann mit 2867 Stimmen.


Ex libris für Else Bergmann von

Friedrich Adler.


Eine kleine, aber aussagekräftige Begebenheit aus der Weimarer Zeit sei am Rande hier erwähnt. Im Jahr 1929 feierte der FV Olympia Laupheim ein Jubiläum: 25 Jahre Fußball in der Stadt wurden im August drei Tage lang gefeiert. Wie bei solchen Gelegenheiten üblich wurden auch großzügig Auszeichnungen, in diesem Fall silberne Vereinsnadeln, verliehen. Unter den Ausgezeichneten waren Marco und Max Bergmann ebenso Ehrenvorstand Mut Steiner und Sam Steiner. Sie waren im gleichen Verein, erhielten die gleiche Auszeichnung und kamen möglicherweise auch noch ganz gut aus mit Leuten wie Abdon Lemmle, dem ersten NS- Ortsgruppenleiter, oder Josef Spleis, Otto Miller, Willy Tröscher oder Hugo Raff, die später ebenfalls NS-Funktionsstellen wie Block- oder Zellenleiter innehatten. Sie alle wurden gemeinsam geehrt und haben sich vielleicht auch zu einem gemeinsamen Foto aufgestellt. Gut drei Jahre später war die Gemeinsamkeit aufs Radikalste zerstört...

Auch Elsa Bergmann betätigte sich kulturell vielseitig in der Gemeinde, obwohl sie in ihren frühen Jahren ausgesprochen antireligiös war. So leitete sie lange Jahre den israelitischen Frauenverein, der es als eine seiner Hauptaufgaben betrachtete, „der Schuljugend die religiösen Feste eindrucksvoll zu gestalten“. Ihre Nachfolgerin in diesem Amt war Lina Kaufmann. Von 1928 bis 1934 war Elsa Bergmann Vorstand der Jüdischen Frauenvereinigung in Württemberg.

Marco Bergmann (rechts), vor ihm steht Gemeinderat Adolf Scheffold.

 

Seit der  Gründung der  „Reichsvertretung der Deutschen Juden gehörte sie als eine von drei Frauen auch dieser Organisation an. Die „Reichsvertretung“ musste 1934 als Dachorganisation der deutschen Juden und Ansprechpartner für die Nazi-Regierung gebildet werden. Elsa Bergmann war bei der ersten Versammlung der Organisation am 11. Februar 1934 in Berlin dabei, neben so bedeutenden Persönlichkeiten wie Rabbiner Leo Baeck, Martin Buber und anderen jüdischen Geistesgrößen, insgesamt 52 Personen. Bis zur Emigration arbeitete sie in dieser Vereinigung mit.

Die älteste Tochter Lore war vermutlich die erste Laupheimerin, die Deutschland 1933 aus politischen Gründen verließ. Sie hatte 1929 an der Uni Freiburg das Physikum bestanden und 1933 ihr Medizinstudium in München abgeschlossen und promoviert. Nun ging sie nach London, um dort ihren Beruf auch ausüben zu können.

Ihre jüngere Schwester Ruth machte 1933 an der Laupheimer Latein- und Realschule gerade erst die Mittlere Reife. Auf dem Foto ihrer Klasse sitzt sie ganz rechts, reifer und älter als ihre Schulkameraden wirkend. Die Namen ihrer Mitschüler, von links, stehend: Anton Schick, Eugen Sonntag, Ludwig Dobler, Bruno Denser, Hermann Zepf, Schneider (Schwendi), Fritz Staub, Karl Baum. Sitzend: Irene Traub, Liesl Hofheimer, Karl Müller, Irene Adler, Ruth Bergmann. Im Jahr 1936 folgte Ruth ihrer älteren Schwester nach London. Später ging Lore nach Kanada, Ruth nach New York.

 

 

 

Der politische Überblick und die Erfahrungen, die Else Bergmann in den Gesprächen und Verhandlungen der Reichsvertretung mit den NS-Vertretern sammeln konnte, spielten sicher eine große Rolle bei dem 1936 gefassten Entschluss der restlichen Familie, aus Deutschland zu flüchten anstatt eine reguläre Emigration zu planen. Fast ihr ganzes Hab und Gut ließen sie zurück, denn Marco, Elsa und Paul Bergmann gelangten im Januar 1937 ohne Einreisepapiere mit nur wenigen Koffern und einer wertvollen Stradivari-Geige im Gepäck nach London bzw. über Havanna in die USA. Das zurückgelassene Eigentum wurde später von den deutschen Behörden beschlagnahmt.

Marco, der schon in Laupheim teilweise eigene geschäftliche Wege gegangen war, gründete nun in New York eine eigene Haarveredlungsfirma, in die nach seiner Rückkehr als US-Soldat aus dem Krieg auch sein Sohn Paul einstieg. Diese lief nicht schlecht und nach ihrer Ankunft in New York fanden auch seine Cousins und ehemaligen Partner Max und Edwin bei ihm zeitweise Arbeit und Unterstützung. Da von ihren Kindern niemand in das Haargeschäft einstieg, war schon vorgezeichnet, wie es nach der Restitution in Laupheim weitergehen würde: Die Familie Marco Bergmann mit den Teilhabern Marco, Else, Paul und Eleonore führten die Firma Bergmann allein weiter, die Erben der früheren Teilhaber wurden 1950 aus- bezahlt. 1954 wurde ein weiterer Partner, Heinz Freund, hereingenommen.

Die ganzen komplizierten und belastenden Restitutionsverhandlungen nach dem Krieg in Laupheim lagen weitgehend in den Händen des über  siebzigjährigen Marco Bergmann, ebenso wie die Wiederaufnahme der Produktion und des Geschäftsbetriebs. Daher war er schon bald nach Kriegsende wieder viel mehr in Laupheim als in New York, wo sein Sohn Paul allmählich die Leitung übernahm. Doch noch bis 1953 hieß die Laupheimer Firma Württembergische Haarfabrik“. Marco erlebte es also nicht mehr, dass sie wieder den Namen „Bergmann erhielt:

Bei einem tragischen Verkehrsunfall auf der Fahrt von Ulm nach Laupheim verunglückte der 73jährige am 22. Juni 1952 bei Dellmensingen und wurde mit schweren Verletzungen nach Ulm ins Krankenhaus eingeliefert, wo er einen Tag später starb. Sein Cousin Max, der die abgebildete Todesanzeige in der „Schwäbischen Zeitung“ aufgegeben hatte, überlebte ihn nur um sechs Wochen.

Marcos Sohn Paul starb 72jährig im Dezember 1982 in New York, seither sind seine Söhne Peter und Ronald Mitinhaber der New Yorker und der Laupheimer Firma Bergmann.

 

 

Quellen:

John Bergmann, The Bergmanns from Laupheim, 1983, Museumsbestände, unnummeriert, Archiv Theo

Miller, John-Bergmann-Nachlass im Leo-Baeck-Institut New York. Auf Mikrofilm im Stadtarchiv Laupheim,

17 Bänder, Foto aus 2/27.

* * *

Update 29. Januar 2025

Geraubte Elfenbeinfiguren wieder in der Villa Bergmann

Der nationale Tag zum Gedenken an die Opfer der Shoa, der in jedem Jahr am 27. Januar 2025 begangen wird, stand in diesem Jahr in Laupheim im Zeichen einer berührenden Geschichte um Objektrückgabe und Wiedergutmachung, zu der auch die Mitglieder unserer GGG einen Beitrag geleistet hatten.

Der Journalist Christoph Meyer aus London war auf Spurensuche nach Entnazifizierungsunterlagen seiner Großtante und hatte dabei wertvolle Elfenbeinfiguren aus dem Bestand der ehemaligen Villa des Fabrikanten Marco Bergmann in Laupheim wiedergefunden. Über die Homepage des Gedenkbuches unserer GGG „Die Jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung“ fand er die Nachfahren der Familie von Marco Bergmann, in deren Anwesenheit nun am 27. Januar 2025 diese Elfenbeinfiguren an ihren originären Ort zurückgebracht und ins Gebäude integriert wurden. Lesen Sie dazu den folgenden Zeitungsbericht.

Im Sommer 2023 schrieb Christroph Meyer ein Mail an die Gesellschaft für Geschichte und Gedenken und bat um Vermittlung zur Familie Bergmann. Bei Recherchen zur Familie war er auf unsere Seite gestoßen:

Sehr geehrte Frau Lincke, sehr geehrte Vorstandsmitglieder

ich schreibe Ihnen mit der Bitte um Ihren Rat und eventuell Vermittlung im Zusammenhang mit der Rückgabe von mutmaßlich unrechtmäßig erlangten Gegenständen aus der Zeit des Nationalsozialismus.

Aus Gesprächen innerhalb meiner weiteren Familie sowie Nachforschungen hat sich der Verdacht ergeben, dass eine kleine Sammlung von Elfenbeinfiguren aus dem Nachlass meiner Großtante aus der Villa Bergmann in Laupheim stammen könnten.

Angesichts der Geschichte der Flucht Marco Bergmanns und seiner Familie müssen wir davon ausgehen, dass diese Gegenstände nicht auf rechtmäßigem Wege in den Besitz unserer Familie gelangt sind.

Es ist daher unser großer Wunsch, sie zurückzugeben. Allerdings leben die direkten Nachfahren Marco Bergmanns, so weit wir das recherchieren konnten, alle in den USA.

Eine Kontaktadresse oder Telefonnummer ließ sich nicht ermitteln. Ohnehin wäre die Versendung von Elfenbein über Landesgrenzen hinweg aufgrund von Artenschutzbestimmungen inzwischen heikel.

Wie wären Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie uns einen Rat geben könnten, wie wir hier weiter vorgehen könnten.

 Mit freundlichen Grüßen

Christoph Meyer

*****

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Bergmann, sehr geehrter Herr Dr. Niemetz,

mein Name ist Christoph Meyer. Ich habe in den vergangenen Monaten mithilfe von Herrn Schick Kontakt mit Anne Dorzback und der Familie Bergmann in den USA aufgenommen. Es geht um die Rückgabe einer Gruppe von Elfenbeinfiguren, die in der Nazizeit aus der Villa Bergmann in Laupheim gestohlen wurden.

Ich möchte Ihnen gerne den Vorschlag unterbreiten, diese Figuren an ihren Ursprungsort zurückzubringen und in der heutigen Musikschule Gregorianum in einer Vitrine auszustellen.

Die Figuren befanden sich lange im Besitz meiner Großtante in Stuttgart. Aus Erzählungen in der Familie geht aber hervor, dass sie aus der Villa Bergmann geplündert wurden. Ein Dokument, das ich kürzlich bei einer Archivrecherche finden konnte, beweist zudem, dass meine Großtante in der Villa Bergmann mehrmals übernachtet hat, als die Bergmanns bereits geflohen waren.

Es war daher mein großer Wunsch, die Figuren an die rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. Die Erben von Marco und Else Bergmann, die alle in den USA leben, nahmen mein Angebot an. Allerdings gestaltete sich das als schwierig, da Elefantenelfenbein unter sehr strenge Artenschutzauflagen fällt und nur unter großer Mühe ausgeführt werden kann. Die Familie Bergmann hat daher den Vorschlag gemacht, die Figuren an das Museum zur Geschichte der Juden und Christen in Laupheim zu geben, in der Hoffnung, dass sie dort einen Platz in der Dauerausstellung erhalten könnten. Sie hatten mich darum gebeten, das in die Wege zu leiten.

Herr Schick teilte mir jedoch kürzlich mit, dass dies kaum möglich sein wird, da die Dauerausstellung ein abgeschlossenes Konzept ist, wofür ich natürlich Verständnis habe.

Daher kam mir der Einfall, dass man womöglich eine Vitrine mit den Figuren und ihrer Geschichte in der Musikschule aufstellen könnte.

Dann wären sie wieder an dem Ort, von dem sie einst gestohlen wurden und die Schüler des Gregorianum hätten die Möglichkeit, sich mit der Geschichte des Gebäudes auseinanderzusetzen, in dem sie lernen. Soweit ich weiß, gibt es dort bisher auch keinen Hinweis auf die Geschichte der Villa Bergmann.

Ich hoffe, dieser Vorschlag ist in Ihrem Sinne und freue mich, von Ihnen zu hören,

mit freundlichen Grüßen 

Christoph Meyer

Christoph Meyer (2.v.l) übergab an die Familie Bergmann eingens angefertigte Dublicate der Elfenbeinfiguren.

Christoph Meyer und Ron Bergmann an der Vitrine mit den originalen Elfenbeinfiguren.

Rückkehr der geraubten Elfenbeinfiguren

 

1937 konfiszierten die Nationalsozialisten Hab und Gut des ins Ausland geflohenen jüdischen Laupheimer Unternehmers Marco Bergmann. Dank einer hartnäckigen Spurensuche wird ein Unrecht zurechtgerückt.

Roland Ray - Schwäbische Zeitung vom 18.01.2025

Eine kunstvoll geschnitzte Dose aus Elfenbein hat Christoph Meyer als Kind fasziniert. Sie stand bei seiner Großtante „Liesel“, die im Raum Stuttgart lebte, im Wohnzimmer. Als sie 2001 starb, fragte ihr Sohn, Meyers Patenonkel, den damals 18-Jährigen, ob er aus dem Nachlass gerne ein Andenken hätte. „Die Dose fand ich immer so schön“, sagte der junge Mann. Die sei nicht mehr vorhanden, antwortete der Onkel und deutete, offenbar unangenehm berührt, eine unrühmliche Vorgeschichte an, mit einem jüdischen Fabrikanten und einer Villa in Laupheim.

Foto: Im Ersten Weltkrieg wurde Marco Bergmann 1915 eingezogen. Er diente bei der Infrantrie, später als Kraftfahrer. Das Bild zeigt ihn und seine Frau Elsa.


„Ich habe das damals so stehen lassen“, sagt Meyer, der als Journalist in London arbeitet. 20 Jahre später holte ihn die Episode jedoch ein. Während der Corona-Pandemie sichtete er die Entnazifizierungsakten seiner Groß- und Urgroßeltern und der Großtante. „Ich wusste, dass die meisten von ihnen in der NSDAP waren. Aber man hat nie wirklich darüber gesprochen.“


Zu ihrer Entlastung legte die Großtante nach 1945 unter anderem ein Schreiben vor, das bezeugen sollte, dass sie von 1937 bis 1939 mehrfach ihren Verlobten in Laupheim besucht und jeweils bei Kathi Nördlinger, einer jüdischen Frau, in der Ulmer Straße 64 übernachtet habe. Meyer recherchierte, dass Kathi Nördlinger 1942 im KZ Treblinka ermordet wurde und Ulmer Straße 64 die Adresse der „Villa Bergmann“ war. Marco Bergmann, Teilhaber der 1873 gegründeten Haarfabrik J. Bergmann & Co., einem Unternehmen von Weltruf, hatte sie 1912 bezogen. Sein Großneffe Hans schildert ihn als großzügigen, kunstsinnigen Menschen, der ein Orchester gründete und Gastspiele namhafter Ensembles und Solisten in Laupheim förderte.


Diesen Mann und dieses Haus musste Meyers Patenonkel in seiner Andeutung gemeint haben –was er dann auch bestätigte. Mehr noch: Er stieg auf den Dachboden und kramte Elfenbeinfiguren hervor. Ob sie aus der Villa stammten? Der Gedanke drängte sich ebenso auf wie die Gewissheit, dass Tante Liesel nicht die rechtmäßige Besitzerin gewesen war. Wie sie an die Figuren kam, bleibt allerdings eine offene Frage.


Marco Bergmann und seine Frau Else nutzten eine Auslandsreise, um im Januar 1937 aus Hitler-Deutschland zu flüchten. Mit ein paar Koffern und einer wertvollen Geige im Gepäck gelangten sie über London und Havanna in die USA. Die Enteignung in der Heimat folgte auf dem Fuß, die NS-Behörden beschlagnahmten allen persönlichen Besitz. Nicht nur die Villa wurde zwangsversteigert, sondern – im Dezember 1937 – auch das Inventar. Dazu gehörten vor der Flucht, wie aus Restitutionsakten ersichtlich, zwölf geschnitzte Elfenbeinfiguren im Schlafzimmer.

Foto: Am nördlichen Stadtrand von Laupheim ließ der jüdische Unternehmer Marco Bergmann 1912 eine epräsentative Villa bauen. Das Foto stammt von 1914, der Park um das Haus wuchs damals noch heran.

Mag sein, dass die Großtante die Versteigerung genutzt hat. Vielleicht hatte sie auch Zugang zu der zeitweise herrenlosen Villa, die nur wenige Meter von dem Haus entfernt liegt, in dem bis 1937 Kathi Nördlinger wohnte. Im Adressbuch von 1938 wird Nördlinger hingegen in der Ulmer Straße 64 – dem Bergmann-Anwesen – geführt. Der Lokalhistoriker Karl Neidlinger hält es für möglich, dass ihr dort ein Zimmer für kurze Zeit als Übergangsquartier diente.

Ob es wohl Nachfahren gibt, denen man die Elfenbeinfiguren zurückgeben kann, fragte sich Christoph Meyer. Die Laupheimer Gesellschaft für Geschichte und Gedenken vermittelte ihn an Ann Dorzback; die 103-Jährige lebt in den USA, sie ist Marco Bergmanns Nichte. „Es war für mich sehr wichtig, mit jemandem zu sprechen, der die NS-Zeit durchlitten hat“, sagt Meyer. „Ich habe mich für meine Verwandten entschuldigt.“ Er betrachtet es als großes Glück, dass seine Suche erfolgreich war – „oft ist ja niemand mehr da“.

Ann Dorzback stellte den Kontakt zu Marcos Enkeln her. Einer von ihnen, Ron Bergmann aus New York, griff den Faden auf und man kam überein, die Elfenbeinfiguren der Stadt Laupheim als Dauerleihgabe anzubieten. Am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, kehren sie an ihren früheren Standort in der Villa Bergmann zurück, in der seit 1992 die städtische Musikschule untergebracht ist. Sie werden in einer Vitrine ausgestellt. Eine Tafel am Gebäude informiert künftig über die wechselvolle Geschichte des Hauses und den Erbauer. Marco Bergmann erkämpfte nach Kriegsende vor Gericht die Rückgabe der zwischenzeitlich „arisierten“ Firma. 1952 starb er bei einem Autounfall. Danach übernahm Heinrich Freund das Unternehmen, es firmiert bis heute unter dem Gründernamen. Bis 2018 waren Angehörige der Familie Bergmann stille Teilhaber.
Die Elfenbein-Sammlung ist nicht mehr vollständig. „Sieben Figuren sind noch da“, berichtet Michael Niemetz, Leiter des Laupheimer Museums zur Geschichte von Christen und Juden. Es handelt sich um Kunstschnitzarbeiten („Okimono“), wie sie seit dem 19. Jahrhundert in Japan gefertigt wurden; dargestellt werden häufig Mythen, Heilige aus dem Buddhismus und Alltagsszenen. Marco Bergmann hat seine Figuren vermutlich auf einer Geschäftsreise nach Asien erworben.

Vor allem aus China bezog seine Firma unbehandeltes Menschenhaar, das gebleicht und gefärbt und danach zum Beispiel für Haarnetze und Perücken verwendet wurde. Ob die Dose Teil der Sammlung war, ist unklar; sie gilt als verschollen.
Seine Großtante habe nach Lage der Dinge gewusst, dass sie sich Raubgut aneignete, resümiert Christoph Meyer. Das erschüttere ihn auch deshalb, weil sie ihn zu Anstand und Respekt gegenüber anderen angehalten habe. „Es war für mich nicht vorstellbar, dass sie sich etwas nimmt, was ihr nicht zusteht.“ Für ihn ein Anlass, darüber zu reflektieren, wie widersprüchlich Menschen handeln und wie brüchig das eigene Wertesystem unter Umständen sein kann.

Auf eigene Kosten haben Meyer und Familienmitglieder im 3-D-Druck-Verfahren Kopien der Elfenbeinfiguren herstellen lassen. Meyer möchte sie Ron Bergmann, den er am 27. Januar in Laupheim trifft, schenken.

Geraubte Elfenbeinfiguren wieder in der Villa Bergmann

Sieben Figuren aus Elfenbein, die einst von den Nazis zwangsversteigert wurden, sind seit Montag zurück in Laupheim. Das ist vor allem einem Mann zu verdanken.

Anna Berger - Schwäbische Zeitung vom 29.01.2025

Laupheim Die Geschichte der sieben Elfenbeinfiguren, die einst von den Nazis aus der Villa Bergmann in Laupheim geraubt wurden, klingt wie aus einem Roman – mit allem, was dazu gehört. In der Geschichte geht es um Schuld und Wiedergutmachung, Glück und Zufall, Enttäuschung und Freude.

Held dieser Geschichte ist Christoph Meyer, der als Auslandskorrespondent für die Deutsche Presse-Agentur in London arbeitet und getan hat, wovor sich viele sträuben: Er stellte sich der Vergangenheit und beschäftigte sich mit der Rolle, die seine Vorfahren in der NS-Zeit gespielt haben. Wenn auch nicht direkt beteiligt am Holocaust, so waren sie doch NSDAP-Mitglieder und, so beschreibt es Meyer, Anhänger einer menschenverachtenden Ideologie, die zur Ermordung von rund sechs Millionen Juden führte.

Angetrieben wird die Geschichte durch das besagte Elfenbeinensemble, handgeschnitzte Figuren aus Japan, die der jüdische Fabrikant Marco Bergmann vermutlich von einer Geschäftsreise in Asien mit nach Laupheim gebracht hat, wo er Teilhaber der 1873 gegründeten Haarfabrik J. Bergmann & Co. war.

Zwölf Stück sollen es ursprünglich gewesen sein. Laut Michael Niemetz, Leiter des Museums zur Geschichte von Christen und Juden, zierten sie in den 1930er-Jahren das elterliche Schlafzimmer in der Villa Bergmann in der Ulmer Straße 64. Wie die 1912 errichtete Villa selbst wurde das Inventar im Jahr 1937 von den NS-Behörden beschlagnahmt und zwangsversteigert. Marco Bergmann und seine Frau Else waren kurz zuvor vor den Nationalsozialisten in die USA geflüchtet.

Am Montag, 27.01.2024, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, sind sieben Figuren aus der Sammlung an den rechtmäßigen Ort zurückgekehrt. In der Villa Bergmann, die heute die städtische Musikschule Gregorianum beherbergt, sind sie nun in einer Vitrine zu sehen. Die Enkel des einstigen Hausherren haben sie der Stadt als Dauerleihgabe überlassen. „Ich hoffe, dass diese wunderschönen Figuren hier so lange gezeigt werden wie möglich“, sagte Ron Bergmann bei der Übergabe im Namen seiner Familie. Sie stünden symbolisch für einen Akt der Versöhnung und dafür, dass es nur einen Menschen brauche, um diese Versöhnung zu ermöglichen.

Für den Bergmann-Enkel ist dieser eine Mensch Christoph Meyer. Als „ausgezeichneter Rechercheur“ arbeitete er die Nazi-Vergangenheit seiner Vorfahren auf. Als er dabei auf sieben Elfenbeinfiguren stieß, machte er mithilfe der Laupheimer Gesellschaft für Geschichte und Gedenken die rechtmäßigen Besitzer der Nazi-Raubkunst in den USA aus.

„Was ich über meine Familie herausgefunden habe, ist etwas, das ich mit Sicherheit mit Millionen von Menschen teile“, betonte Meyer auf Englisch, da die Nachfahren von Marco Bergmann größtenteils nur wenig Deutsch sprechen. Seine Geschichte, die für ihn in erster Linie eine persönliche ist, habe darum eine politische Dimension: „Es ist leicht, sich mit Erinnerungskultur zu beschäftigen, wenn man die Schuld auf andere abwälzen kann.“ Das hätten auch seine Vorfahren getan: „Sie haben den Eindruck vermittelt, dass sie sich nicht an dem Hass und der Verachtung in dieser Zeit beteiligt haben.“ Es habe ihn erschüttert herauszufinden, dass das eine Lüge war.

Dass es in seiner Familie NS-Raubkunst gibt, erfuhr Meyer in Ansätzen bereits 2001. Damals war seine Großtante „Liesel“, zu der er ein sehr enges Verhältnis hatte, gestorben. Liesels Sohn, Meyers Patenonkel, habe ihn damals gefragt, ob es etwas gibt, das er gerne hätte aus deren Wohnung im Großraum Stuttgart. Da erinnerte er sich an eine handgeschnitzte Elfenbeindose, die er als Kind bewundert hatte. Als er danach fragte, reagierte sein Patenonkel jedoch kurz angebunden, erklärte, dass die Dose nicht mehr da sei und sie aus einer Villa jüdischer Fabrikanten stamme.

Für ihn sei das Kapitel erstmal abgeschlossen gewesen, bis er rund 20 Jahre später während der Corona-Pandemie die Entnazifizierungsakten seiner Groß- und Urgroßeltern und seiner Großtante sichtete. „Ich habe meine Großtante geliebt. Für mich war sie die würdevollste Frau, die man sich vorstellen kann. Ich verdanke ihr viele meiner eigenen Werte.“ Es sei darum ein Schock für ihn gewesen, zu sehen, dass ihre Akte die dickste war. Er erfuhr, dass sie nach dem Krieg beschuldigt wurde, eine sehr enthusiastische Nationalsozialistin gewesen zu sein. „Herauszufinden, dass Menschen, die ich liebe und bewundere, von dieser Ideologie eingenommen waren, war eine sehr schmerzhafte Erfahrung für mich.“ Als er daraufhin nochmals das Gespräch mit seinem Patenonkel suchte, holte dieser die Elfenbeinfiguren aus der „Villa Bergmann“ vom Dachboden und übergab sie Meyer.

Wie genau die Figuren in den Besitz seiner Großtante gelangt waren, konnte Meyer trotz weiterer Recherchen nicht herausfinden. Möglich sei, dass sie die Schnitzereien auf einer Zwangsversteigerung im Dezember 1937 in Ulm erworben hat, auf der das Inventar der Villa für gerade einmal fünf Prozent des tatsächlichen Wertes verscherbelt wurde. Vielleicht hatte sie aber auch Zugang zur zeitweise herrenlosen „Villa Bergmann“ nach der Flucht der Familie. Liesel habe in den 1930er-Jahren nämlich mehrfach ihren Verlobten in Laupheim besucht und sei während dieser Aufenthalte in der Villa untergekommen. Ihr späterer Schwiegervater arbeitete für die Haarfabrik und habe darum in dem Gebäude gelebt. Für ihn sei es jedoch nicht wichtig, wie seine Großtante an die Figuren gekommen ist. Was ihn beschäftigt ist, dass sie sie hatte: „Ich weiß nicht, wie sie darüber dachte. Aber sie hätte sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen müssen.“ Gleichzeitig empfindet Meyer es als Glück, dass etwas da war, was er zurückgeben konnte – und dass es noch Nachfahren gibt, die die Raubkunst entgegennehmen konnten.

Nicht zufällig wurde für die Übergabe an die Stadt Laupheim der 27. Januar ausgewählt, der Tag, an dem sich die Befreiung von Auschwitz zum 80. Mal jährte. Dieser biete Anlass, an die Opfer nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten zu erinnern, wie Oberbürgermeister Ingo Bergmann betonte. Ähnlich formulierte das Ron Bergmann. Gleichzeitig hob er hervor, dass der Blick in die Vergangenheit immer auch mit der Gegenwart verknüpft werden müsse. „Was in diesen dunklen Tagen geschehen ist, geschieht auch heute, beispielsweise in Gaza.“ Dass die Figuren nun in einer Musikschule stehen, sei für ihn das Beste, das hätte passieren können. Zum einen würden sie jungen Menschen dort ein wichtiges Stück Geschichte lehren. Zum anderen sei die Villa seiner Großeltern ein Ort gewesen, der stets von Musik erfüllt war.

Tatsächlich war die Familie Bergmann ihrerzeit im Besitz eines Steinway-Flügels, einer Stradivari-Geige sowie eines wertvollen Violin-Cellos, wie Musikschulleiter Tim Beck betonte, der bei der Veranstaltung die Moderation des Gesprächs zwischen Ron Bergmann und Christoph Meyer moderierte. Nur die Geige hätten sie damals bei ihrer Flucht mitnehmen können. Um an die Instrumente und die Musikbegeisterung der Bergmanns zu erinnern, hatte die Musikschule für die Übergabe der Figuren verschiedene Musikstücke mit jüdischem Hintergrund auf den jeweiligen Instrumenten vorbereitet, die von Helmuth Zeihsel (Klavier), Petr Hemmer (Violine) und Michael Strele (Cello) virtuos vorgetragen wurden. In seinem Resümee des Abends lenkte Beck den Blick nochmals auf Christoph Meyer: „Wenn wir alle ein Stück Christoph in uns haben, dann lernen wir, mit der Schande umzugehen.“

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