Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung
Gedenkbuch Seiten 189 - 195
Viehhandel, Radstraße 27
DR .
UDO
BAYER
,
KARL
NEIDLINGER
Sigmund Hirsch Einstein, geb. 26.11.1870 in Laupheim, Vieh- und Pferdehändler, gest. 13.1.1939 in Stuttgart, OO Selma Einstein, geb. Laupheimer, geb. 22.3.1878 in Laupheim, deportiert am 24.4.1942 nach Izbica (Generalgouvernement).
– [Gisela Einstein, geb. 31.7.1903 in Laupheim, 1923 nach Stuttgart geheiratet, 1939 nach Shanghai emigriert],
– Lilly Einstein, geb. 3.7.1909 in Laupheim, 1933 nach Frankreich emigriert, gest. 2000 in den USA.
Das
Schicksal
dieser
Familie,
von der
keinerlei Spuren mehr
künden, ist
an
Tragik und
Dramatik
kaum noch
überbietbar.
Der
NS-Rassenwahn zerstreute diese
vier Personen
über die ganze
Welt, niemand
erhielt
ein Grab auf
dem Laupheimer
Friedhof
und das
einstige
Wohnhaus
in der
Radstraße
ist irgendwann
nach dem Krieg
einem
Firmenparkplatz gewichen.
Sigmund war
das
sechste
der vierzehn
Kinder des
Hirsch
Einstein und seiner
Frau
Bertha.
Die auf den
vorigen
Seiten beschriebene
Mina Einstein ist eine
der zehn
Kusinen,
die er
allein
in
Laupheim hatte.
Im
Juni
1900
verheiratete
sich Sigmund mit Selma
Laupheimer,
zwei Töchter gingen
aus der
Ehe hervor:
Gisela, geb.
1903, und
Lilly,
geb. 1909.
Sigmund Einstein
handelte mit
Vieh und
auch mit
Pferden und gehörte damit zu
den
„besseren“
Viehhändlern. Nur auf
ihn kann
sich der
Text
auf der
nächsten
Seite aus
dem „Laupheimer
Kurier“
vom 6. 2.
1937 beziehen.
Er ist
ein
gutes
Beispiel dafür,
mit
welchen
Methoden und
Verdrehungen
die
NS-Presse
arbeitete, um
das
Klima
zwischen Christen
und Juden zu
vergiften und die jüdischen
Unternehmer aus der
Wirtschaft zu verdrängen.
Nazipropaganda:
Wie
aus
einem
Kuhhandel
ein
Verbrechen
wird
Der
„nichtarische
Händler
Einstein“
hatte mit
einem Bauern
aus Rot ein gutes
Geschäft
gemacht, mit dem
offenbar
beide
Seiten
zufrieden waren.
Es kann
nur der
unterlegene
Konkurrent
Einsteins gewesen
sein, der sich
bei der
Zeitung
beschwerte, dass
er die
Kuh
nicht
bekommen hatte. Aus
dem
normalsten
Vorgang der Welt
–
Bauern
setzen den Preis
für ihr
Vieh
zunächst hoch an und
versuchen soviel wie möglich
zu bekommen,
der
gewiefteste oder vertrauenswürdigste
Händler bekommt
schließlich meist
günstiger den Zuschlag
– machte der
Schreiber des Nazi-Blattes
ein
„unehrliches Handelsangebot“.
Am Schluss
werden alle die
Volksgenossen
gewarnt, „denen
Geschäftsverbindungen
mit jüdischen Händlern
wertvoller erscheinen
als
mit
deutschen.“
Zwischen
den
Weltkriegen
Die 1903 geborene Gisela
Einstein verheiratete
sich 1923 mit
dem aus Buttenhausen
stammenden Friedrich
Levy
und zog
mit ihm
anschließend
nach Stuttgart. Mehr
verraten
die beiden
folgenden
Anzeigen aus dem „Laupheimer
Verkündiger“
leider nicht.
Weitere
Nachforschungen
etwa in
Stuttgart
unterblieben aus Zeitmangel,
doch die
Vermutung,
dass Friedrich
Levy
dort
irgend
einen akademischen Beruf
ausübte, liegt
nahe.
Die jüngere
Tochter
Lilly emigrierte
schon im
Jahr 1933
nach
Frankreich. Sie
hatte in Köln bei
einer
jüdischen
Familie
als Kindermädchen
gearbeitet und ging
nun mit
dieser
nach
Paris.
Einmal
jährlich besuchte
sie weiterhin
ihre in
Laupheim
lebenden Eltern, zum
letzten
Mal 1937: Bei
diesem Besuch
bekam sie
auf dem
Gehsteig
von
einem
fremden Haus
herab einen
Kübel
Wasser
über den Kopf
geschüttet,
begleitet von
üblen
Schimpfwörtern.
Weil
sie sich
nun nicht
mehr nach
Laupheim
traute, sollte
sie ihre
Eltern danach
nie mehr
wiedersehen.
Sigmund und Selma
Einstein meldeten
sich
im
Februar
1938 in
Laupheim
ab und zogen
zu ihrer
älteren
Tochter
Gisela
Levy
nach
Stuttgart.
Der 68jährige
Vater
Sigmund
war im
Winter
1937/38 von zwei
Laupheimern dermaßen
misshandelt und verletzt worden,
dass er
fortan ständiger
Pflege bedurfte
und nie wieder
ganz gesund
wurde. An
den
Folgen
dieser ungesühnt
gebliebenen Misshandlung
starb er am 13. Januar
1939 in
Stuttgart,
als eines der
ersten
Laupheimer
Opfer des
NS-Rassenwahns.
Es
ist
gut vorstellbar,
dass der
Überfall auf
ihn mit
der oben
beschriebenen
Hetze
zusammenhängt,
die in
der NS-Presse
gegen ihn
geführt wurde.
Flucht
nach
Shanghai
Die
Familie
Levy war
vom
Schicksal
des
Vaters
und den
entsetzlichen Ereignissen
in
der
Pogromnacht
1938 so
geschockt, dass sie
nur noch
ein Ziel
hatte: Möglichst
schnell weg
aus
Deutschland!
Doch die
anderen Länder
lockerten ihre rigiden
Einwanderungsbestimmungen trotz
der Novemberpogrome
nicht,
auch
weil
sie die Gefahr für
die
deutschen
Juden völlig
unterschätzten. Die
Stadt
Shanghai in China war 1939
eine
Zeit lang
der
einzige
Platz auf
der
ganzen
Welt, wo
Juden ohne Einreisevisum
aufgenommen wurden. Die
vierköpfige
Familie
Gisela Levy griff
nach
diesem
Strohhalm und floh 1939
mit
ihren
zwei Kindern
nach Shanghai.
Sie
waren nicht
die einzigen
deutschen Juden,
die diesen
verzweifelten Schritt taten,
doch er
hat ihnen
das
Leben
gerettet. Dank
der Hilfe
von
Verwandten
in den
USA
konnte Gisela
Levy
mit den zwei Kindern 1940
doch noch
in die
USA,
nach San
Francisco,
gelangen,
ihr Mann
Friedrich
jedoch durfte
nicht
einreisen
und musste bis 1947 in
Shanghai
bleiben, wo
ihn 1945
sein
Sohn, der als US-Soldat
gegen
Japan
gekämpft
hatte, besuchte. Aus
San
Francisco
schrieb Gisela
dann
1947 ihrer
Schwester Lilly nach
Frankreich,
sie solle
doch
auch
hierher kommen.
Selma
Einstein
Seit dem
2.
10.
1939 war
die Witwe
Selma Einstein
wieder in
Laupheim
gemeldet, da
sie
vermutlich nicht
nach Shanghai
mitkommen wollte.
In ihre
alte
Wohnung
in der
Radstraße
durfte sie aber in
Laupheim
nicht mehr
zurück, sondern
wurde im
Rabbinat
zwangseinquartiert.
Auf einem der
Fotos
aus dem
Altersheim,
die über Gretel Gideon zu
Ernst Schäll
gelangten,
sitzt sie
zusammen
mit ihrer
früheren Nachbarin
aus der
Radstraße, Babette
Rieser,
eingezwängt zwischen Bettstellen
in einem überbelegten
Zimmer.
Selma Einstein (links) und Thekla Nördlinger im jüdischen Altersheim,
dem früheren Rabbinat, wahrscheinlich 1940. Beide Frauen wurden
im
Mai 1942 nach
Izbica
deportiert. (Foto:
Bilderkammer
Museum)
Im März 1942 informierte die Gestapo Stuttgart die Landräte und Polizeidirektoren über eine weitere, unmittelbar bevorstehende Deportation von Juden nach dem Osten. Ganz offen heißt es dazu schon im ersten Satz des Schreibens:
„Die in der letzen Zeit in einzelnen Gebieten durchgeführte Umsiedlung von Juden nach dem Osten stellt den Beginn der Endlösung... dar.“
Für
April
kündigte
die
Gestapo einen weiteren
Transport
an,
der von Stuttgart
ausgehen sollte.
Aus
Laupheim traf
es dann
am 24.
April 1942
drei
Frauen, alle
um die
sechzig, die
jüngsten,
die nach
der
ersten
Deportation vom Nov.
1941 noch
verblieben waren:
Hedwig Rosenberg,
Thekla Nördlinger
und Selma
Einstein. Sie
wurden mit
rund tausend
weiteren Opfern
nach Izbica
in
Polen
verschleppt.
Das
Dorf
Izbica bei
Lublin
hatte einen
großen
Verschiebebahnhof,
weshalb die
SS hier ein
Übergangs-
oder Durchgangslager
neu einrichtete.
Unter entsetzlichen
Bedingungen und
großen
Verlusten
wurden die
eintreffenden
Personen
hier eine
Zeit
lang festgesetzt und dann,
je nach
„Bedarf
“,
von
dort in
die ebenfalls neu eingerichteten,
ganz in
der
Nähe
liegenden
Vernichtungslager
Belzec, Sobibor,
Treblinka
oder Majdanek
verbracht und
ermordet.
Erinnerungsblatt
Yad
Vashem
„Von
unserer Schulfreundin
Selma Einstein
hören wir nichts“, schrieb Lina
Wertheimer
in einem Brief
an Emma
Gideon aus
dem jüdischen Altersheim,
datiert vom 15. 7.
1942.
Wahrscheinlich
war Selma
Einstein zu dem
Zeitpunkt schon tot, ermordet
in einem
der vier genannten
Vernichtungslager.
Ihr Erinnerungsblatt in
der Gedenkstätte
Yad
Vashem
in Jerusalem
nennt zwar
Theresienstadt
als Ort
ihrer
Ermordung, mit
einem berechtigten
Fragezeichen.
Ihre
Tochter Lilly
Koron,
die das Dokument
ausgefüllt hat,
konnte es
nicht genauer
wissen. Sie
kämpfte in dieser Zeit in
Frankreich um
ihr
Überleben,
welches mehrfach auf des Messers
Schneide
stand.
Lilly Einstein,
verh.
Koron
Am 10. Mai 1940 griff die deutsche Wehrmacht die westlichen Nachbarn Holland, Belgien und Frankreich an und besiegte in einem sechswöchigen Blitzkrieg den „Erbfeind“ im Westen. Hitler stand auf dem Höhepunkt seiner Macht und ließ
sich als „größter Feldherr aller Zeiten“ feiern. Am 14. Juni 1940 fiel Paris und seit
diesem Tag war auch Lilly Einstein wieder im Machtbereich der Deutschen. Schon kurz darauf wurde sie mit anderen deutschen Juden, die in Paris Zuflucht gefunden hatten, in das berüchtigte Lager Gurs am Rande der Pyrenäen verschleppt. Doch es gelang ihr, von dort zu fliehen, und sie fand Unterschlupf in einem kleinen Dorf namens Morlaas, bei Pau in der Nähe von Lourdes gelegen, im nicht besetzten Teil Frankreichs. Im Dorfgasthof konnte sie als Magd arbeiten und wohnen, sie
hatte fast nichts anzuziehen und verdiente im Monat sieben Dollar.
Alex Koron, Sohn eines
1935 nach Paris emigrierten Münchner Zahnarztes, hatte sich 1940 zur Fremdenlegion nach Marokko gemeldet, um einer Internierung wegen fehlender Papiere zu entgehen. Bald nach der Kapitulation musste er aber wieder zurück nach
Frankreich, wo er im nicht besetzten Teil im Dorf Morlaas eine
Arbeitsgenehmigung als Bauernknecht erhielt. Im Dorfwirtshaus lernte er seine spätere Frau Lilly Einstein kennen, sie wurden ein Paar und heirateten im Dezember 1941.
Im August 1942 erhielten Alex und Lilly Koron, die ein kleines
Ausgedinghäuschen
bewohnten, eine heimliche Vorwarnung der Polizei: Am nächsten Morgen werde eine Razzia durchgeführt, alle jungen Leute aus dem Dorf sollten in deutsche
Arbeitslager gebracht werden. Das bedeutete höchste Gefahr für beide. Sie beschlossen, sich im Heustadel eines Nachbarn zu verstecken, wo sie die Razzia un- entdeckt überstanden. Ihre Freunde, Nichtjuden, die sich nicht versteckt hatten, waren nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt worden. Die beiden beschlossen unterzutauchen und wollten nun mit gefälschten Papieren zu Fuß und per Bahn die 1000 km entfernte Schweizer Grenze zu erreichen versuchen. Ihre
wenigen Habseligkeiten, in erster Linie ein Fahrrad, machten sie noch schnell zu Geld und dann gelang es ihnen tatsächlich, unentdeckt das Ufer des Genfer Sees zu erreichen. Nun musste noch ein zuverlässiger Fischer gefunden werden, der nicht mit der Polizei zusammenarbeitete und den Flüchtlingen Scheinangebote machte. Auch hier hatten sie Glück. Ein hilfsbereiter
Fischer brachte sie, zusammen mit zwei weiteren Personen, eines Nachts ans andere Ufer des Genfer Sees nach Lausanne.
Auch in der Schweiz wurden sie nicht übermäßig freundlich behandelt und, obwohl sie verheiratet waren, zwei Jahre lang in getrennten Arbeitslagern
interniert. Nach Kriegsende 1945 gingen sie wieder zu Fuß nach Paris zurück, wo sie noch fast drei Jahre blieben. Hier erfuhr Alex Koron, dass sein Vater bei einer Ausweiskontrolle
1943 festgenommen und 1944 mit dem letzten Transport nach Auschwitz deportiert worden war.
Mit Hilfe der Schwester Gisela Levy konnten sie 1947 in die USA einwandern, wo
sie in San Francisco lebten. Im Jahr 2000 ist Lilly Koron in Desert Hot Springs bei Los Angeles verstor ben, nachdem sie und ihr Mann zuvor noch
mehrmals Laupheim
besuchen konnten.
Lilly
und
Alex
Koron vor
ihrem
Haus in Desert Hot
Springs,
1995.
(Foto:
Archiv
Dr.
Bayer)
Quellen:
Interview
Dr.
Udo
Bayer
mit Alex
und Lilly
Koron,
Aug.
1995, Museumsarchiv. Köhlerschmidt/Hecht:
Die Deportation
der Juden
aus Laupheim,
Laupheim
2004.
„Laupheimer
Verkündiger“.
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