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Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung

Gedenkbuch Seiten  394 - 397

HANAUER, Babette,

und Pauline und Hermann Nördlinger

Kapellenstraße 49

 

KARL NEIDLINGER

Pauline Nördlinger, geb. Einstein, geb. 25.5.1868 in Laupheim, gest. 4.12.1940 in Laupheim. Witwe von [Ludwig Nördlinger, Landwirt, geb. 23.5.1863, gest. 30.10 1932 in Laupheim].
Benno, geb. 14.11.1895,
Julia, verh. Bernheim, geb. 12.7..1898,
Hermann, geb. 6.11.1901, Heirat am 25.8.1938 mit Irmgard
Bodländer, danach Wegzug nach Groß Breesen (Brandenburg). Verwitwete Schwester von Ludwig Nördlinger: Babette Hanauer, geb. Nördlinger, geb. 3.12.1864, gest. 10.7.1936 in Laupheim. Tochter: Julia Hanauer, geb. 1.8.1891 in Esslingen. 

 

Dieses Foto aus Ernst Schälls Archiv, gleichermaßen originell wie aussagekräftig, gibt einige Rätsel auf. Gretel Gideon hat auf der Rückseite Namen vermerkt, doch sie war sich nicht sicher, trotz ihres guten Gedächtnisses, ob der Erwachsene nun Julius oder Ludwig Nördlinger hieß. Das ist gut nachvollziehbar, denn die beiden waren Cousins, beide waren Landwirte und Viehhändler und ihre Anwesen befanden sich in der Kapellenstraße.


Das Foto muss im Hof von Kapellenstraße 49 um 1903/1904 entstanden sein, der abgebildete Besitzer des Gespanns und des Hofes ist „Ökonom“ Ludwig Nördlinger. Denn laut aufgemaltem Schriftzug, allerdings nur mit Lupe zu erkennen, heißt die sehr solid wirkende Kinderkutsche „Benno“, nach dessen ältestem Sohn. Dieser steht höchstwahrscheinlich, ähnlich angezogen wie sein Vater, daneben. Er schaut sehr wichtig, ist sich seiner Bedeutung als Wagenbesitzer und Ältester wohl bewusst und wirkt mit seinen Erwachsenenkleidern deutlich älter als acht oder neun Jahre. Die sicherste Namensangabe bei den Kindern gilt dem Jüngsten auf dem Kutschbock: Dort sitzt der etwa dreijährige Hermann Nördlinger, das Leitseil und einen Stecken in der Hand. Auf dem Schulfoto (nächste Seite) sieht er genau gleich aus.

In der Mitte: Julia und Hermann Nördlinger als Schüler der israelitischen Volksschule,

1909. Links: Fredel (Frida) Nathan, rechts: Gretel Gideon. (Foto: Leo-Baeck-Inst. NY)

Mit großer Sicherheit sitzt seine drei Jahre ältere Schwester Julia, 1898 geboren, hinter ihm, zum Fotografen gewandt. Das mittlere der drei Mädchen, mit Brille und blonden Locken, ist laut Gretel Gideon Julie Hanauer, also eine Kusine der Nördlinger-Kinder. Julias Mutter Babette Hanauer, geb. Nördlinger, war in Esslingen mit Samuel Hanauer verheiratet und zog nach dessen Tod 1893 wieder nach Laupheim, wo sie im Haus ihres Bruders Unterkunft fand. Julie Hanauer wäre 1903 zwölf Jahre alt gewesen, was gut passt.

Auch das dritte Mädchen, zehn Jahre alt, ist mit Johanna Heimann sicher richtig benannt. Johanna Heimann war erst ein oder zwei Jahre vorher nach Laupheim gezogen. Ihre Mutter Jeanette, Jenny genannt, war eine geborene Steiner, eine frühere Nachbarin der Nördlingers und in Kaiserslautern mit Julius Heimann verheiratet. Nach dem Tod ihres Gatten im Jahr 1901 zog Jenny Heimann mit ihrer Tochter wieder nach Laupheim und wohnte in der Ulmer Straße 28/1 (heute Nr. 29) zur Miete. Jenny Heimann starb am 21. 7. 1934 im Alter von 64 Jahren, sie ist in Laupheim beerdigt. Danach zog die bis dahin immer noch bei ihr lebende Tochter Johanna zum 1. 11. 1934 weg nach Freiburg.

Die beiden älteren auf dem Wagen sitzenden Jungen sind laut Gretel Gideon Hugo Höchstetter und Julius Einstein, was Vergleiche mit den Bildern der beiden in diesem Buch bestätigen. Beide wohnten auch in der Kapellenstraße, etwas weiter unten. Nur: Im Jahr 1903 wären diese zwei schon 16 Jahre alt gewesen, denn beide sind Jahrgang 1887. Nach heutigem Verständnis sehen Sechzehnjährige eigentlich nicht so aus und sie würden sich auch nicht zu kleinen Kindern auf den Wagen setzen, um spazieren zu fahren.

Das Foto ist auch ein Dokument dafür, wie weit und wie rasch sich die Pubertät in hundert Jahren nach vorne verlagert hat. Dann zeigt es, wie stark die jüdischen Familien zusammenhielten und mit welcher selbstverständlichen Solidarität alleinerziehende verwitwete Frauen und deren Kinder von vollständigen Familien unterstützt und in diese integriert wurden. In erster Linie aber kann man ablesen, welche Aufmerksamkeit und Fürsorge den Kindern galt. Ludwig Nördlinger war sicher kein übermäßig reicher Bauer, doch er leistete sich den „Luxus“ eines Kinderspielzeugs, das diesen, vor allem seinem Ältesten, sichtbar Selbstbewusstsein und Stolz verlieh. Benno dankte es ihm, indem er schon als Kind zum Ebenbild seines Vaters wurde, bereit, in seine Fußstapfen zu treten.

Bennos und Julias weiterer Werdegang wurde bereits in anderen Aufsätzen weiter vorne beschrieben. Der jüngste, Hermann, trat dann eher in die Fußstapfen seines Vaters, er scheint nach der Schulzeit eine landwirtschaftliche Ausbildung gemacht zu haben und war später als Landwirt und Viehhändler tätig. Beim landwirtschaftlichen Bezirksfest im September 1930 in Laupheim ist sein Name bei den „Ergebnissen der Preiswettbewerbe“, welche in der Zeitung mehrere Seiten beanspruchten, zu finden. Beim Reit- und Fahrturnier nahm er am Jagdspringen in der Klasse A teil und belegte den 7. Platz. Die landwirtschaftlichen Bezirksfeste waren Großereignisse mit Festumzug, verschiedenartigsten Wettbewerben, Prämierungen landwirtschaftlicher Produkte und ähnlichem, bei denen sich alle paar Jahre das ganze Oberamt traf.

Ludwig Nördlinger verstarb 67jährig im Oktober 1932. In der Gemeindezeitung für das jüdische Württemberg“ vom 1. 12. 1932 erhielt er einen Nachruf, in dem es unter anderem heißt:

 „Laupheim. Am 2. November wurde ein verdienstvolles Gemeindemitglied, Oekonom Ludwig Nördlinger, zu Grabe getragen. Die außerordentlich starke Beteiligung an der Beisetzung bewies, wie sehr sich der Verstorbene der allgemeinen Wertschätzung aller Kreise erfreuen durfte. – Der Sarg wurde in der Synagoge aufgebahrt. Kaum konnte der Raum alle die fassen, die dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen wollten. Der Synagogenchor sang seinem bewährten Mitglied ein letztes Lied, worauf Religionsoberlehrer Kahn in einer Tauerrede die hervorragenden Eigenschaften des Heimgegangenen würdigte. Für den Synagogenchor sprach sodann Jacob Adler herzliche Worte des Dankes und der Anerkennung für den treuen Sänger, der zur Verherrlichung des Gottesdienstes seine Kraft jahrzehntelang zur Verfügung gestellt hatte. Für den „Verein Talmud Thora“ sprach Fritz Hofheimer in ergreifender Weise und dankte ihm insbesondere für seine vorbildliche, langjährige Tätigkeit als 1. Vorsitzender.“

 

In der NS-Zeit

Aus welchen Gründen sich Hermann Nördlinger von 1936 bis Sommer 1938 in Sorgau in der Niederlausitz aufhielt, wo er als „landwirtschaftlicher Vorarbeiter“ tätig war, ist unklar. Wahrscheinlich hat er dort aber seine spätere Frau Irmgard Bodländer kennengelernt, denn sie kam aus Breslau. Seit Juli 1938 wohnten beide wieder in Laupheim und hier heirateten sie am 25. 8. 1938. Wenige Tage danach zog das Paar nach Groß Breesen/Brandenburg. Und wenn nicht im J.-Bergmann-Nachlass die abgebildete Todesanzeige Hermann Nördlingers von 1983 aufgetaucht wäre, hätte sich ihre Spur verloren.

 

 

(John-Bergmann-Nachlass, Reel 1, Box 2)

So aber ist klar, dass sie noch die Emigration in die USA schafften nicht nach Israel, sondern in die USA, obwohl Hermann Nördlinger auch Mitglied der Zionistischen Vereinigung für Deutschland war und obwohl er als gelernter Landwirt dort sicher gern gesehen gewesen wäre. Die allein zurückgebliebene Mutter Pauline musste wie die anderen 1939 oder 1940 in das ehemalige Rabbinat umziehen und in entwürdigenden, beengten Verhältnissen weiterleben. Dennoch strahlt sie auf allen Fotos, auf denen sie zu sehen ist, Optimismus und gute Laune aus, was für ihre Mitbewohner sicher sehr hilfreich war. Ein gnädiges Schicksal hat sie vor der Deportation bewahrt. Am 4. Dezember 1940 starb sie und wurde noch neben ihrem Mann auf dem Laupheimer Friedof beigesetzt.

 

Pauline Nördlinger (rechts im Bild) als Bewohnerin des jüdischen Altersheims

 

 

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