Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung
Gedenkbuch Seiten 15 - 22
Lebensmittel , Kapellen Straße 44
KARL NEIDLINGER
In
Laupheim
gab
es
im
19.
und
20.
Jahrhundert
zwei
verschiedene
„Adler“-
Familien,
die
nicht
verwandt
oder
verschwägert
waren.
Man
unterschied
sie
nach
ihrem
Wohnplatz,
obwohl
sie
nur
wenige
Häuser
voneinander
entfernt
wohnten:
Die
„Judenberg-Adlers“
und
die
„Kapellenstraßen-Adlers“.
Erstere
waren
Weber
und Viehhändler,
eher
wenig
begütert,
letztere begannen
als
Bäcker
und Konditor
und
brachten
es
als
Lebensmittel-Großhändler
zu
ansehnlichem
Wohlstand.
Die
Ahnherrin
des
Anton-Bergmann-Geschlechts,
Helene
Adler,
die
Großmutter Gretel
Bergmanns,
stammt
aus
der
Judenberg-Familie,
der
Jugendstilkünstler
Friedrich
Adler
wurde
in
der
Kapellenstraße
geboren.
Dieses
Buch
beginnt
mit den
Kapellenstraßen-Adlers,
deren Urahn
Simon Jakob
Mitte
des 18.
Jahrhunderts
aus
Ederheim/Ries
nach
Laupheim
zog.
Sein
Urenkel Isidor
Adler (1828–1916)
begründete den
florierenden
Lebensmittel-Großhandel
und
erbaute
1876 ein
repräsentatives
Wohn-
und
Geschäftshaus
in der
Kapellenstraße
44, das
heutige
Café
„Hermes“
(Foto
unten).
Er war
zweimal
verheiratet, in
erster
Ehe seit
1859 mit
Judith
„Jette“
Engel aus
Wallerstein/Ries,
nach dem
Tod
seiner
ersten
Frau
seit
1874 mit
Karolina
Frieda
Sommer
aus Buchen/Baden. Aus
beiden Ehen
gingen insgesamt
neun Kinder
hervor,
sechs erreichten
das
Erwachsenenalter.
1933
lebten
drei davon
in
Laupheim:
der
älteste, 1860
geborene
Sohn Eugen
sowie Jakob
(1875) und
Edmund (1876)
aus
der zweiten
Ehe. 1939
zog
Tochter
Betty (geb.1863),
verheiratete
Wolf,
wieder nach
Laupheim,
nachdem ihr
Gatte Abraham
Wolf
in
Buchen verstorben
war.
Bevor die
Adlers den
Aufstieg schafften
und zu
Wohlstand kamen,
waren auch
aus ihrer
Familie
in den
Zeiten des
Pauperismus,
der
Massenarmut
im 19.
Jahrhundert,
zahlreiche
Angehörige in
die USA
ausgewandert.
Von
den acht
Geschwistern
Isidor Adlers
erreichten
fünf das
Erwachsenenalter.
Drei davon
wanderten
Mitte des
19.
Jahrhunderts
ebenfalls in
die USA
aus –
und seine
sieben Cousins und
Kusinen,
die das
Erwachsenenalter erreichten,
gingen zwischen
1850 und
1863 allesamt
dorthin!
Die
Firma
Isidor
Adler
&
Cie.
So
wie
es dem künstlerischen
Werk
Friedrich
Adlers nach
dem Krieg erging,
nämlich
völlig in
Vergessenheit
zu
geraten,
so
verhält
es sich
auch mit
der
Firma
Isidor Adler.
Es sind
nur noch
wenige
Spuren von
ihr zu
finden,
und es
hätte
Mitte der
80er Jahre
des letzten
Jahrhunderts nicht
viel gefehlt,
dass sogar
das abgebildete
Geschäftshaus
in der
Kapellenstraße
der
Spitzhacke
zum Opfer
gefallen wäre.
In keinem
Archiv konnten
irgendwelche
Firmenunterlagen
entdeckt werden,
auch in
den
Beständen der
IHK Ulm
sowie im
Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg
nicht, ebenso
wenig gibt es
schriftliche Hinterlassenschaften
von
Familienangehörigen.
Dem
gewaltsamen
Ende der
Firma und
der
Vernichtung
der
gesamten
älteren
Familiengeneration
in der
Shoa folgte
nach dem
Krieg das
Vergessen
und die
Spurenverwischung.
So
steht
diese
Familie
zwar zufällig,
wegen
des Alphabets,
aber
völlig zu
Recht
am
Anfang
dieses Erinnerungsbuches.
Sie spielte
zudem eine nicht
unwichtige
Rolle beim
Aufstieg
Laupheims
vom Dorf
zur Stadt,
wozu die
Ausbildung
von Zentrumsfunktionen
zwingend gehörte.
Frieda und Isidor Adler um 1912
(Archiv Ernst
Schäll)
Anton Schniertshauer,
Lebensmittelhändler
und Bäcker
in
Hüttisheim,
er hielt 1910
von der
Firma Isidor
Adler den
abgebildeten
Zinnkrug geschenkt, der
folgende Aufschrift
trägt:
„Das
Haus
Isidor
Adler
Herrn Anton
Schniertshauer
zur
Erinnerung
an die
50-jährige
Geschäftsverbindung
1860–1910“.
Die
Geschäftsverbindung
zwischen der
Firma
Isidor Adler und
dem
Hüttisheimer
Lebensmittelladen
Schniertshauer
(„Fideles“)
wurde erst
durch die Zwangsarisierung
der
jüdischen
Betriebe 1938/39
gewaltsam
beendet. Das
gute
Verhältnis,
das die
ganze
Zeit über herrschte, belegt
die folgende Episode aus
der
Familienüberlieferung,
die auch durch
einen
Zeitungsbericht gesichert
ist.
Im
Jahr 1868
war ein
unverhoffter Geldsegen über
die nicht
sehr begüterte
Familie
des Anton
Schniertshauer
hereingebrochen:
Eine seiner
Schwestern hatte
den Hauptpreis in
der
Ulmer
Münsterbaulotterie
gewonnen. Aber soviel
Bargeld
aus
Ulm
abzuholen
und
nach
Hüttisheim
zu
bringen,
traute
sich
niemand
in
der
Familie
zu,
auch
Vater
Fidel
nicht.
So
musste
Isidor
Adler
aus
Laupheim
mit
nach
Ulm
gehen,
um
die
10
000
Gulden
sicher
heim
zu
bringen!
Das
Bäcker-
und
Konditorenhandwerk
stand nur
am Anfang der
Firmengeschichte,
über die
keine
gesicherten Daten
zu
finden
waren. Eine
Ausbildung zum
Konditor
machte auch
Isidor
Adler,
doch schon
früh
schaffte
er den
Sprung zum
Lebensmittelgroßhändler.
Er
heiratete 1859
in
Augsburg
seine erste
Frau
und dürfte
zu diesem
Zeitpunkt
auch das
elterliche
Geschäft in
Laupheim
übernommen haben.
Es befand
sich damals
noch auf der anderen
Straßenseite,
neben dem
inzwischen
abgebrochenen Steiner-Stammhaus.
Isidor Adler
belieferte spätestens
seit 1860
die
Lebensmittelläden
in den
Dörfern des
Laupheimer
Umlandes mit Zucker
und Salz,
Kaffee
und
Wein,
Essig und
Öl, bald
auch mit
„Kolonialwaren“,
wobei der
Radius seiner
Geschäftsbeziehungen
die Grenzen
des
Oberamtes
rasch überschritt.
Wenn
eine größere
Lieferung eintraf,
beispielsweise
ein
ganzer
Eisenbahnwaggon
Kälbermehl, dann
wurde an die
Endabnehmer auch
direkt ab
Waggon
auf dem
Bahnhof verkauft.
Der
Firmensitz
in der
Kapellenstraße
44 bestand
aus dem
Wohn-
und
Geschäftshaus
direkt an
der Straße, in
dessen Mitte
ein für damalige
Verhältnisse
großzügiges
Lebensmittel-Einzelhandelsgeschäft
eingerichtet
war.
Die
anderen Räume
im
Erdgeschoss
waren Büros,
das
Kontor
genannt, in
dem
neben
den
Firmeninhabern
zeitweise bis
zu drei
Angestellte
arbeiteten.
Lagergebäude, Stallungen,
Garagen, eine
Kaffeerösterei
und eine
Weinabfüllanlage
befanden sich im
rückwärtigen
Hofbereich. Dort
waren
Lagerarbeiter,
Kutscher
oder Chauffeure
tätig,
so dass
in
guten Zeiten bis
zu
zehn Beschäftigte in
der
Firma
angestellt waren.
Dabei sind
die Dienstmädchen
in den
Privathaushalten
noch nicht
mitgerechnet:
Bei der
Familie
Isidor
Adler hatte man
stets
drei
davon,
und
schon
vor dem
Ersten
Weltkrieg
besaß
die
Firma
einen
Lkw
zur besseren und
rascheren
Bedienung
ihrer
Kundschaft.
Telefonisch
erreichbar
war
die
Firma
Adler unter
der
Telefonnummer 4,
was zeigt,
dass man technisch
bei
Neuentwicklungen auch ganz
vorne mit
dabei war.
Zu
Purim, der
jüdischen
Fasnet, veranstaltete
der Gesangverein „Frohsinn“
alljährlich einen oder
mehrere Purimbälle, gesellschaftliche Ereignisse mit
umfangreichem
Programm und
manchmal sogar
einer
gedruckten
Programmzeitung
mit allerlei
witzigen Beiträgen.
Im Purim-Heft
vom Jahr
1912
findet
sich auf
Seite
20 die
auf der
linken
Seite abgedruckte
„Annonce“
der
Firma
Adler,
die einen Eindruck
wiedergibt
von der
Sortimentsbreite
des
Ladengeschäfts:
Eine
Konditorei war
das
schon
lange nicht
mehr.
Man muss gar nicht
unbedingt
draufkommen, wie
die
unbekannten
Autoren in
der Anzeige
getauscht haben,
und kann
trotzdem staunen:
Rund die
Hälfte der
in der
Anzeige
genannten Markenartikel
sind nach
hundert Jahren
immer noch
auf dem
Markt! Die
anderen
Anzeigen (unten
und auf
den
nächsten
Seiten) stammen
alle aus der
damaligen
Laupheimer
Lokalzeitung,
dem
„Laupheimer
Verkündiger“.
Solche
Annoncen sind
fast die
einzigen
Quellen, die
über die
Firma
Adler noch
Auskunft
geben.
Fast
keine
Informationen gibt
es
über
die
wirtschaftlichen
Auswirkungen der
NS-
Zeit
auf
die
Firma
Adler.
Bekannt ist
nur,
dass sie
der
bisherige
Prokurist
Gebhard Schneider
im Jahr
1939
übernommen
und unter
seinem Namen
weitergeführt
hat.
Auch die
Nachkriegssituation bleibt
im Dunkeln,
da
es
–
im
Gegensatz zu
den meisten
anderen
Familien
und
Firmen
– im
Staatsarchiv
Sigmaringen auch
keine Unterlagen
über die
Restitutionsverhandlungen
und die
Entschädigungen
gibt. Das
noch
vorhandene Wissen
über die
NS-Zeit
bezieht sich
mehr auf
die
familiären
Situationen und
taucht daher
in
den
nächsten Abschnitten
auf.
Eine im Original viel größere Anzeige aus dem „Laupheimer Verkündiger“, die den Kunden signalisieren soll: Die Zeiten sind schlecht. Es ist höchste Zeit, jetzt zuzugreifen! Der im Text beklagte „Mangel an Rohmaterialien“, der weitere Lieferungen von Kälbermehl ausschließen würde, kam durch den Ersten Weltkrieg zustande, der erst sieben Monate vorher begonnen hatte. Die Anzeige stammt vom 13. März 1915 und zeigt, wie schnell der Krieg Nahrungsmittel und Rohstoffe in Deutschland knapp werden ließ.
Die älteste
der hier abgedruckten Annoncen stammt vom 31.
Jan. 1874.
Isidor Adler gibt im „Laupheimer
Verkündiger“ seine Mehlpreise
bekannt und empfiehlt besonders Mehl Nr. 2. Die Preise sind noch in Gulden (fl=
Gulden) und Kreuzern angegeben; 1 Gulden hatte 60 Kreuzer. Die Umstellung auf
die
neue deutsche Einheitswährung Mark erfolgte
einige Jahre nach der Reichsgründung
von 1871. In Württemberg wurde die Mark zum 1.
Juli 1875
eingeführt.
Umgestellt wurde
im
Verhältnis
1
Gulden = 1,71 Reichsmark.
Die „Hohen Heiligen
Tage“,
auch die
Herbstfeiertage genannt, beginnen
mit
dem
traditionellen
jüdischen Neujahrsfest
Rosch
Haschana und
verschieben
sich daher im
Termin
immer wieder
geringfügig.
Auf
Rosch
Haschana folgt der
höchste jüdische
Feiertag,
Yom Kippur,
das Versöhnungsfest,
danach kommt
Sukkot, das
Laubhüttenfest,
und schließlich noch Simchat
Tora,
das
Fest
mit den
Tora-Rollen.
Wenn Neujahr und
Yom
Kippur auf
einen Wochentag
fielen, wie
1903 oder
1924, hatten die
jüdischen Geschäfte
an diesen
Tagen
geschlossen.
Ein
Teil
der 1903
mit
inserierenden
Firmen
existierte 1924
nicht
mehr,
wie etwa
die Schneiderei
Höchstetter
oder die
Drechslerei
Einstein, andere
scheinen
sich an
dieser
Regelung
nicht mehr beteiligt
zu
haben.
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