Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung
Gedenkbuch Seiten 224 - 236
KIRSCHBAUM, Sali, Jette, und Therese,
Kurzwaren, Kapellenstraße 61
BRIGITTE SCHMIDT
[Leopold Kirschbaum, 1815–1884, OO Berta Kirschbaum, geb. Oberdorfer, 1832–1896, aus Heinsfurt stammend.]
– [Jacob Karl, geb.1858, gest. 1.12.1913, Ulm],
– Sali Sara, geb. 29.12.1859 in Laupheim, gest. 13.2.1941 in Laupheim,
– Jette, geb. 15.1.1861 in Laupheim, gest. 12.2.1941 in Laupheim,
– Therese, geb. 26.11.1862 in Laupheim, gest. 11.2.1941 in Laupheim,
– [Max, geb. 1863],
– [Flora, geb. 1865, gest. 1871],
– [Lina-Rika, geb. 1866],
– [Louis, geb. 1871].
Alle acht
Kinder
des
Ehepaares
Leopold
und
Berta
Kirschbaum wurden in
Laupheim
geboren. Die
Familie
bewohnte ein
kleines Haus in
der
Kapellenstraße 61. Der
Vater
war Kaufmann.
Im
Wohnhaus
war unten ein
Laden
eingerichtet.
Verkauft
wurden u.
a.
Tabakwaren,
Bonbons,
Kolonialwaren.
Im
späteren Verkaufsvertrag
wird das
Geschäft
als
Spezereiwarenhandlung
bezeichnet. Die
Ladentür,
in
der Mitte
des Hauses, ging zur Straße
hin.
Der
älteste Sohn
der
Familie,
Jakob
Karl, blieb
ledig und
arbeitete bei
Lazarus Moos in
Ulm. Max
und
Louis
wanderten
beide nach Amerika
aus. Sie
wurden
1880 bzw.
1887 aus
der württembergischen Staatsangehörigkeit
entlassen.
Flora starb schon
mit zwei
Jahren. Die
nach ihr
geborene Lina-Rika lebte zuerst
in Bayern,
war mit
dem Pferdehändler
Joel Eppsteiner
verheiratet und
lebte
mit ihm in Peoria,
Illinois.
1896, beim
Tod
der
Mutter,
lebte Max
als
Kaufmann in
North
Platte, Nebraska.
Louis, ebenfalls
Kaufmann,
in
New
York
City,
County,
USA.
Die vier
Geschwister verzichteten zugunsten
von Sali Sara,
Jette
und
Therese
auf ihr Erbe,
das sich
auf
5000 Mark
belief.
Die
ausgewanderten Geschwister
waren in
Briefkontakt
mit ihren
in
Laupheim
gebliebenen
Schwestern, ihre
Post
aus dem
fernen Amerika
war sehr
begehrt. Die
Briefmarken allerdings waren beim
Nachbarsjungen Bernhard Burkert
sehr geschätzt.
Für jeden
Botengang
erhielt er
eine der
begehrten
Briefmarken. Das waren
wirklich
exotische Briefmarken, berichtet er,
und sie
bildeten
den Anfang
seiner
Briefmarkensammlung. Bernhard
Burkert holte jeden Abend
frische Milch
aus der Molkerei
im Schloss
und brachte
sie u.
a.
den
drei in
Laupheim
verbliebenen
Schwestern,
die nach
dem
Tod
des
Vaters
den
kleinen
Laden
weiterführten.
Bernhard Burkert
bestellte die Waren
bei Isidor
Adler,
ebenfalls in
der Kapellenstraße, der
einen
Großhandel betrieb. „Die
Schwestern
haben mir
alles anvertraut,
ich habe im
ganzen Haus
herumgehen
dürfen. Ich habe
in ihrem
Garten
hinter dem
Haus
geschafft, ich
habe das
Obst
geerntet,
damals war
ich zwölf
oder dreizehn
Jahre alt.
Ich hab’ auch
mitessen dürfen,
wenn sie
was Gutes gehabt haben. Die
haben immer
mal wieder
guten Gänsebraten
gemacht, die Gänse
haben
sie
selbst
gemästet. Ich
habe beim
Mästen
nicht zugucken
dürfen, trotzdem habe
ich gesehen,
wie sie
gestopft wurden.“
Bernhard Burkert wurde
auch zum
Schächter,
zum
Kantor
Dworzan, geschickt,
der im
jüdischen
Schulhaus wohnte. Die
Gans, die
Henne oder
der Gockel
wurde noch
lebend in
einem
Säckle oder
Körble zum
Schächter gebracht,
der im
Garten hinter dem
Schulhaus
dem Tier
den
Kopf
halb
abtrennte,
damit es
ausblutete.
Anschließend
wurde das
Tier
zurückgebracht und Bernhard
Burkert durfte
helfen, die
Federn
zu rupfen.
Auch durfte
er für
die
Schwestern
am Sabbat
das
Feuer anmachen.
„Ja,
die
drei Schwestern
waren fromm, die
hab’
ich nie
anders
gesehen als dass
sie
gebetet
haben am
Mallachagool,
(d. h.
die
Schwestern
haben hebräisch gebetet).“
Die drei
Kirschbaumschwestern
werden
als
eher
arm bezeichnet, „aber
sie haben
gehabt,
was sie
gebraucht
haben. Da
war das
Haus und
der
Garten.“
Bernhard Burkert
deutet auch
finanzielle Unterstützung
von
Verwandten, vermutlich der
ausgewanderten Brüder,
an.
Doch die
Rassengesetze
der Nazis
zwingen
Sali Sara
und ihre
Schwestern,
ihr Elternhaus
samt Garten
am 19.
November 1940
zu verkaufen.
Im Einzelnen
handelt es sich um:
Gebäude
Nr.
61
mit
Wohnhaus,
Abtritt, Scheuer
und Hofraum 2 a
24
m2
Baumgarten hinter
dem
Haus 1
a 87
m2
Baumgarten
in
den
Judenäckern 2 a 64
m2
Mitverkauft
wird alles,
was „band-,
wand-,
niet-
und
nagelfest ist,
einschließlich der
elektrischen
Beleuchtung samt
Beleuchtungskörpern“.
Vom
Verkauf
ausgeschlossen sind
die wenigen noch
vorhandenen Gegenstände
der früheren
Ladeneinrichtung,
über die
die
Verkäufer
noch verfügungsberechtigt
sind.
Von
dem
Verkaufpreis
von 8500
RM
wird
abgetreten:
a) der Betrag
von 3000
RM an
die
Zweigstelle
Württemberg der Reichsvereinigung
der Juden in
Deutschland
zum Zweck
der
Ablösung
der
eingetragenen
Grundschuld
zu
Gunsten der
Israelitischen
Gemeinde
Laupheim
(Israelitische
Stiftungspflege).
b) der
Rest an
die Jüdische
Kultusvereinigung
Württemberg e.V.,
Abt. Altersheim.
Sali Sara verkauft auch ihre
Briefmarkensammlung.
Sie hat
sie
schätzen
lassen
und
Bernhard
Burkert übernimmt
sie für
800 RM.
Doch
weder
Bernhard Burkert
noch Sali
und ihre
Schwestern
haben etwas von dem
Geschäft. Das
Finanzamt
verlangt
das Album.
Die Marken
sollen offiziell
geschätzt werden.
Daraufhin muss
Pfarrer
Burkert
nochmals 300
RM
nachzahlen.
Auch Sali muss
wohl das
ganze Geld
abliefern.
Nachdem das
Haus
verkauft
ist,
müssen
die drei hochbetagten
Schwestern ins
Rabbinat umziehen,
das
inzwischen
zum jüdischen
Altersheim wurde.
Waltraud
Kohl
berichtete
in ihrer
Diplomarbeit
„Die Geschichte der Judengemeinde
in
Laupheim“
vom 22. Mai 1965
darüber.
Der alte
Friedhofswärter
erzählte: „Ich
sehe sie
heute noch,
wie alle
drei Schwestern ihr
Tabakgeschäft hinter
sich abschlossen
und langsam
und gebeugt
die Straße
hinaufgingen zum Rabbinatshaus.
Die eine Hand
stützten sie
auf einen
Schirm, mit
der anderen pressten sie
ein altes,
verblichenes Kissen an
sich.“
Am
11.
Februar
1941 um
18
Uhr
verstirbt Therese,
ledig, berufslos, 79jährig.
Der Arzt
attestiert Herzmuskelentartung.
Am 12.
Februar
1941 um 18 Uhr
45 stirbt
Jette,
ledig,
berufslos, 80jährig.
Der Arzt
attestiert Arteriosklerose. Am
13.
Februar
1941
um
7
Uhr
45
ist
Sali
Saras
Leben
erloschen.
Auch bei
ihr
steht
im
Totenschein
ledig,
berufslos.
Auch
bei
ihr
nennt
der
Arzt
als
Todesursache
Arteriosklerose.
Else Sara
Weil,
die
Leiterin
des
jüdischen
Altersheims, bezeugt bei
allen
drei
Schwestern
den
Tod.
Alle drei
Schwestern
sind auf dem
jüdischen
Friedhof
beerdigt. Als
Besucher
ist man
überrascht über
den dreifachen Grabstein, der
auf besondere
Weise
auf das
Ableben
der drei
Schwestern innerhalb
weniger Stunden
aufmerksam macht.
(Foto:
Michael Schick)
Verwendete
Unterlagen:
Familienregister Band
V,
S.102,
Standesamt
Laupheim,
Totenscheine
Nr.
22, 23,
24, Standesamt
Laupheim.
Unterlagen
zum Hausverkauf:
Erste beglaubigte
Ausfertigung aus
der Niederschrift
über die
amtliche Schätzung
von Grundstücken, Stadt
Laupheim,
Band
X,
Gl. 102.
Interview von
Dr.
Benigna
Schönhagen mit Pfarrer Bernhard
Burkert,
v.
8. 3.
1995. Waltraud
Kohl:
Die Geschichte
der Judengemeinde
in
Laupheim
v.
22. 5.
1965.
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